Call Super b2b Objekt | Boiler Room x Dekmantel Festival 2022
Wenn zwei Klangwelten kollidieren: Ein elektrisierendes B2B zwischen Präzision und Risiko
Als sich im Sommer 2022 auf dem Dekmantel in Amsterdam zwei der eigenwilligsten Klangarchitekten unserer Zeit gegenüberstanden, war klar: Dieses b2b ist mehr als ein Treffen zweier DJs – es ist eine kuratierte Kollision zweier musikalischer Denkweisen. Call Super und Objekt sind Vertreter einer Schule, die Techno als offenes System begreift: durchlässig für House, kantige Electro-Kanten, verschachtelte Breakbeats und experimentierfreudige Versatzstücke aus IDM. In Zusammenarbeit mit Boiler Room entstand 2022 ein Mitschnitt, der exemplarisch zeigt, wie aus technischer Souveränität, dramaturgischem Feingespür und einem Publikumsraum, der beinahe auf Tuchfühlung geht, ein kollektiver Rausch wird.
Kontext: Warum dieses Treffen funktioniert
Obwohl beide Künstler eigenständige Profile besitzen, verbindet sie ein unstillbarer Forschergeist. Call Super – vielfach für seine schillernden, melodisch verschachtelten Sets und Produktionen geschätzt – agiert oft wie ein Geschichtenerzähler, der Fäden zwischen Dekaden spannt. Objekt wiederum gilt als Meister der Mikro-Dynamik: Jeder Übergang sitzt, jeder Break ist kalkuliert, ohne berechenbar zu wirken. Das b2b-Format zwingt zu spontanen Entscheidungen; es macht die Bühne zum Gespräch, zum Call-and-Response mit Platten, Dateien und Effekten. An einem Ort wie dem Amsterdamse Bos, wo das Dekmantel traditionell seine Hauptbühnen aufschlägt, trifft diese Ästhetik auf ein Publikum, das Feinheiten wahrnimmt und feiert.
Die Dramaturgie: Spannung, Freiraum und kontrolliertes Chaos
Charakteristisch an diesem Auftritt ist, wie geschickt die beiden das Tempo modulieren. Statt eine lineare Steigerung zu erzwingen, öffnen sie Räume: Ein perkussiver Cut hier, eine schillernde Fläche dort, dann wieder ein trockener, subschwerer Groove, der die Menge zusammenschweißt. Die Auswahl wirkt breit, aber nie beliebig. Das Set nimmt Anleihen bei verschiedenen Traditionen – von Detroits futuristischer Strenge über Londons Bass-Experiment bis hin zu Berlins reduzierter Härte – und übersetzt sie in eine Sprache, die gleichermaßen körperlich und intellektuell zündet. Dabei gelingt das Kunststück, die typischen Kreise von Boiler Room – das Publikum eng um das Pult gruppiert, Kameras auf Augenhöhe – in eine zusätzliche Energiequelle zu verwandeln. Der unmittelbare Feedback-Loop zwischen DJs und Crowd schärft das Timing: Drops fallen auf den Punkt, Eskapaden werden zu gemeinsamen Wagnissen.
Technik als Erzählwerkzeug
Beeindruckend ist die Art, wie beide mit Übergängen umgehen. Beatmatching dient hier nicht als Selbstzweck, sondern als Leinwand für kleine Friktionen und Kontraste. Wo Call Super gerne harmonische Brücken schlägt – etwa durch das behutsame Überblenden melodischer Motive –, kontert Objekt oft mit punktgenauer Rhythmik: Snare-Phasen, präzise gesetzte Hi-Hats, die ein neues Raster aufziehen. Dieser permanente Wechsel aus Reibung und Auflösung hält die Aufmerksamkeit hoch. Gleichzeitig zeigt das Duo, wie moderner Club-Sound auch jenseits maximaler Lautheit funktionieren kann: Luft im Mix, Headroom für Details, Bass, der nicht zudröhnt, sondern trägt. In Momenten, in denen die Energie fast zu kippen droht, ziehen sie Frequenzen zurück, lassen das Publikum „atmen“ – um anschließend umso entschlossener nach vorne zu spielen.
Kuratorische Handschrift: Offenheit statt Dogma
Das Set verweigert sich einfachen Schubladen. Zwischen klassischer 4/4-Pulsation und gebrochenen Rhythmen entsteht ein Sog, der Genregrenzen als Orientierungspunkte nutzt, nicht als Mauern. Das erinnert daran, dass Clubkultur historisch immer von Hybridität gelebt hat – eine Idee, die im Streaming-Zeitalter, wo Algorithmen oft auf Eindeutigkeit drängen, eine wohltuende Gegenposition bildet. Der b2b-Dialog zeigt, wie produktiv Uneinigkeit sein kann: Wenn einer zieht, hält der andere kurz dagegen; wenn einer „schön“ werden will, streut der Partner ein Sandkorn ins Getriebe. Diese Dialektik erzeugt ein Gefühl von Live-Risiko – jenes magische Unkalkulierbare, das man nicht aus Playlists rekonstruieren kann.
Publikum und Setting: Nähe als Energiequelle
Das Format von Boiler Room bringt die Akteure mitten in die Menge. Anders als bei klassischer Frontbühnen-Situation wächst hier ein Kreis, der Blicke, Bewegungen und Reaktionen ungehindert zirkulieren lässt. Das erzeugt eine besondere Form der Intimität und kontrollierten Exponiertheit: Jeder Fehlgriff wäre sichtbar, jedes Glanzstück unmittelbar spürbar. Die Kameraperspektiven – nahe am Fader, nah an Gesichtern – machen die Feinmotorik des Mixens erfahrbar. Gleichzeitig wird das Publikum zum Co-Star, ein Spiegel für das, was im Pult passiert. Für Call Super und Objekt, die beide über Jahre hinweg in Berlin geprägt wurden, ist diese Nähe kein Hindernis, sondern Inspiration: Die Crowd wird Teil der Entscheidungskette.
Fragen & Antworten zum DJ Set
Wer sind Call Super und Objekt?
Call Super (JR Seaton) und Objekt (TJ Hertz) sind international renommierte DJs und Produzenten, die für genreübergreifende, detailverliebte Sets zwischen Techno, Electro, Breakbeat und experimenteller Clubmusik bekannt sind.
Was bedeutet „b2b“ und warum ist es besonders?
„Back-to-back“ heißt, dass zwei DJs abwechselnd spielen und spontan aufeinander reagieren. Das schafft Dialog, Überraschungen und ein erhöhtes Live-Risiko – ideal für frische Dramaturgien.
Welche Rolle spielt Boiler Room in diesem Kontext?
Boiler Room macht Clubkultur weltweit zugänglich, indem es Sets in intimen Settings filmt und streamt. Das Publikum steht dicht am Pult, was Energie, Spontaneität und Sichtbarkeit erhöht.
Wie lässt sich der Stil dieses b2b in wenigen Worten beschreiben?
Detailreich, rhythmisch wendig und dramaturgisch ausgefeilt – mit mutigen Brüchen, harmonischen Brücken und einem ständigen Spiel zwischen Druck und Leichtigkeit.
Wo fand das Set statt und warum passt es zum Festival?
Beim Dekmantel in Amsterdam, einem Festival mit starkem Fokus auf kuratorische Qualität und Klangkultur. Das publikumsnahe Setting und die offene Programmatik sind ideale Bedingungen für ein solches b2b.
Kann man den Mitschnitt heute noch ansehen?
Ja, in der Regel auf den offiziellen Kanälen von Boiler Room. Der Mitschnitt bietet eine gute Annäherung an die Live-Energie – ersetzt sie aber nicht vollständig.
Faktisches
- Boiler Room wurde 2010 in London gestartet und hat seitdem Hunderte von Clubkultur-Momenten dokumentiert.
- Das Dekmantel Festival findet seit 2013 im Amsterdamse Bos statt und ist für seine anspruchsvolle Kuratierung bekannt.
- Call Super ist das Alias des britischen Künstlers JR Seaton, bekannt für genreübergreifende Produktionen und DJ-Sets.
- Objekt ist das Alias des in Deutschland aufgewachsenen Produzenten TJ Hertz, gefeiert für präzise, experimentierfreudige Clubtracks.
- Ein b2b-Set lebt von spontanen Wechseln: Trackwahl, Tempo und Energie werden in Echtzeit verhandelt.
- Die Kamera-Ästhetik von Boiler Room – dicht am Geschehen – verstärkt das Gefühl der Unmittelbarkeit.
- Das Publikum im Kreis um das DJ-Pult verändert die Raumakustik und die Kommunikationswege zwischen DJs und Crowd.
- Die musikalische Bandbreite eines solchen Sets reicht häufig von Techno über Electro bis zu Breakbeat und IDM.
Kritische Analyse
So elektrisierend das b2b ist, es wirft Fragen auf. Erstens: Kuratierung vs. Zugänglichkeit. Die enorme stilistische Breite kann fordern – nicht jede Zuhörerin bleibt bei abrupten Rhythmuswechseln an Bord. Doch genau das ist die Stärke: Clubkultur darf herausfordern. Zweitens: Streaming vs. Erlebnis. Die Kamera bringt uns nah heran, aber sie verändert auch das Verhalten – von den Gesten der DJs bis zur Selbstinszenierung des Publikums. Manche Nuancen – Raumdruck, körperliche Resonanz, das soziale Geflecht einer Tanzfläche – lassen sich im Stream nur andeuten. Drittens: Risiko-Management. B2B-Sets balancieren zwischen Experiment und Kohärenz. Wenn beide Artists ähnliche Terrains betreten, kann Redundanz drohen; sind sie zu weit auseinander, zerfasert die Dramaturgie. Hier jedoch wird die Reibung produktiv genutzt. Viertens: Festivalökonomie. Kurze Slotzeiten und dichte Timetables verdichten Entscheidungen – das schärft die Dramaturgie, kann aber Tiefe begrenzen. Schließlich: Archivierung. Der Mitschnitt ist Segen und Bürde zugleich. Er konserviert einen Moment, aber fixiert ihn auch – und übersieht das, was zwischen Kamerawechseln, in Blicken, im kollektiven Atmen geschieht. Die Erinnerung der Anwesenden bleibt ein anderer, legitimer „Director’s Cut“.
Fazit
Das b2b von Call Super und Objekt beim Dekmantel 2022 ist ein Lehrstück darüber, wie Clubmusik heute funktionieren kann: als offenes System, das Traditionen neu verschaltet; als Gespräch zwischen zwei Artists, die einander fordern und beflügeln; als gemeinschaftliches Ereignis, das ohne die Energie einer nahen Crowd und die besondere Bühne von Boiler Room anders geklungen hätte. Wer verstehen will, wie Präzision und Risiko in zeitgenössischen DJ-Sets koexistieren, findet hier eine Blaupause. Und wer spüren will, warum Festivals wie Dekmantel nach Jahren des Innehaltens wieder als Labor für Klangutopien gelten, bekommt eine überzeugende Antwort: Weil Mut, Neugier und Handwerk zusammenfinden – und weil zwei Künstler bereit sind, im richtigen Moment loszulassen.
Quellen der Inspiration
- Wikipedia: Call Super
- Wikipedia: Objekt (musician)
- Wikipedia: Boiler Room
- Wikipedia: Dekmantel
- Wikipedia: Amsterdamse Bos
- Boiler Room – offizieller YouTube-Kanal
- Dekmantel – offizielle Website
- Resident Advisor – Magazin & Listings
WICHTIG
Du solltest übrigens gerade weil die Künstler mit Streaming nicht gerade viel verdienen, sie am besten direkt unterstützen. Viele Künstler haben die Möglichkeit für Spenden. Mit dem Spendenbutton unter dem Video kannst du z.B. den Klubnetz Dresden e.V. unterstützen. Definitiv solltest Du Auftritte besuchen und wenn Du einen Plattespieler hast, kaufe die besten Tracks auf Vinyl!




























































































